In der Physik ist es etwas ganz Alltägliches: Elektronen verlassen ein bestimmtes Material, sie fliegen weg und dann werden sie gemessen. Einige Materialien geben Elektronen ab, wenn sie mit Licht bestrahlt werden. Diese Elektronen werden dann „Photoelektronen“ genannt. In der Materialforschung spielen auch so genannte „Auger-Elektronen“ eine wichtige Rolle – sie können von Atomen emittiert werden, wenn ein Elektron zunächst aus einer der inneren Elektronenschalen entfernt wird. Wissenschaftlern der TU Wien ist es nun aber gelungen, eine ganz andere Art der Elektronenemission zu erklären, die in Kohlenstoffmaterialien wie Graphit auftreten kann. Diese Elektronenemission war seit etwa 50 Jahren bekannt, aber ihre Ursache war noch unklar.
Seltsame Elektronen ohne Erklärung
„Viele Forscher haben sich darüber schon Gedanken gemacht“, sagt Prof. Wolfgang Werner vom Institut für Angewandte Physik. „Es gibt Materialien, die aus Atomschichten bestehen, die nur durch schwache Van-der-Waals-Kräfte zusammengehalten werden, zum Beispiel Graphit. Und es wurde entdeckt, dass diese Art von Graphit ganz bestimmte Elektronen abgibt, die alle genau die gleiche Energie haben, nämlich 3,7 Elektronenvolt“.
Kein bekannter physikalischer Mechanismus könnte diese Elektronenemission erklären. Aber immerhin gab die gemessene Energie einen Hinweis darauf, wo man suchen sollte: „Wenn diese atomar dünnen Schichten übereinander liegen, kann sich dazwischen ein bestimmter Elektronenzustand ausbilden“, sagt Wolfgang Werner. „Man kann es sich als ein Elektron vorstellen, das zwischen den beiden Schichten ständig hin und her reflektiert wird, bis es irgendwann die Schicht durchdringt und nach außen entweicht.
Die Energie dieser Zustände passt tatsächlich gut zu den beobachteten Daten – man nahm also an, dass es einen Zusammenhang gibt, aber das allein war keine Erklärung. „Die Elektronen in diesen Zuständen sollten den Detektor eigentlich nicht erreichen“, sagt Dr. Alessandra Bellissimo, eine der Autorinnen der aktuellen Publikation. „In der Sprache der Quantenphysik würde man sagen: Die Übergangswahrscheinlichkeit ist einfach zu gering.“
Sprungschnüre und Symmetrie
Um dies zu ändern, muss die innere Symmetrie der Elektronenzustände gebrochen werden. „Man kann sich das wie Seilspringen vorstellen“, sagt Wolfgang Werner. „Zwei Kinder halten ein langes Seil und bewegen die Endpunkte. Tatsächlich erzeugen beide eine Welle, die sich normalerweise von einer Seite des Seils auf die andere ausbreiten würde. Aber wenn das System symmetrisch ist und sich beide Kinder gleich verhalten, dann bewegt sich das Seil einfach auf und ab. Das Wellenmaximum bleibt immer an der gleichen Stelle. Wir sehen keine Wellenbewegung nach links oder rechts, das nennt man eine stehende Welle“. Wenn aber die Symmetrie gebrochen wird, weil sich z.B. eines der Kinder rückwärts bewegt, ist die Situation anders – dann ändert sich die Dynamik des Seils und die maximale Position der Schwingung bewegt sich.
Solche Symmetriebrüche können auch im Material auftreten. Elektronen verlassen ihren Platz und beginnen sich zu bewegen, wobei sie ein „Loch“ hinterlassen. Solche Elektron-Loch-Paare stören die Symmetrie des Materials, und so kann es passieren, dass die Elektronen plötzlich die Eigenschaften von zwei verschiedenen Zuständen gleichzeitig haben. Auf diese Weise lassen sich zwei Vorteile kombinieren: Zum einen gibt es eine große Anzahl solcher Elektronen, und zum anderen ist ihre Wahrscheinlichkeit, den Detektor zu erreichen, ausreichend hoch. In einem perfekt symmetrischen System wäre nur das eine oder das andere möglich. Nach der Quantenmechanik können sie beides gleichzeitig tun, weil die Symmetriebrechung die beiden Zustände „verschmelzen“ (hybridisieren) lässt. Für näheres zu Elektronen lesen sie hier.
„In gewisser Weise ist es ein Teamwork zwischen den zwischen zwei Schichten des Materials hin- und herreflektierten Elektronen und den die Symmetrie brechenden Elektronen“, sagt Prof. Florian Libisch vom Institut für Theoretische Physik. „Nur wenn man sie zusammen betrachtet, kann man erklären, dass das Material Elektronen mit genau dieser Energie von 3,7 Elektronenvolt abgibt“.
Kohlenstoffmaterialien wie der in dieser Forschungsarbeit analysierte Graphittyp spielen heute eine grosse Rolle – zum Beispiel das 2D-Material Graphen, aber auch Kohlenstoff-Nanoröhren mit winzigem Durchmesser, die ebenfalls bemerkenswerte Eigenschaften haben. „Der Effekt sollte in sehr unterschiedlichen Materialien auftreten — überall dort, wo dünne Schichten durch schwache Van-der-Waals-Kräfte zusammengehalten werden“, sagt Wolfgang Werner. „In all diesen Materialien sollte diese ganz besondere Art der Elektronenemission, die wir jetzt erstmals erklären können, eine wichtige Rolle spielen“.